
Geschafft! Nach zwei Wochen konnten wir den Workshop erfolgreich abschließen! Bild: privat
Prof. Dr. Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen lehrte im Februar in Brasilien – wieso eigentlich? Wir haben nachgefragt.
Professor Selke, wieso lehrten Sie im Februar in Rio de Janeiro anstatt in Furtwangen?
Ganz einfach, weil an der HFU gerade vorlesungsfreie Zeit war! Deshalb bot sich ein zweieinhalbwöchiger Vollzeit-Workshop zum Thema „Public Science“, also Öffentliche Wissenschaft, an unserer Partnerhochschule Pontifícia Universidade Católica (PUC) in Rio de Janeiro an.
Wie kam es dazu?
Letztes Jahr hielt ich auf Einladung einen Vortrag über gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven auf Künstliche Intelligenz an der PUC, der positiven Anklang fand. Im Nachgespräch mit der Fakultätsleitung suchten wir nach weiteren Themen für eine längerfristige Kooperation. „Öffentliche Wissenschaft“, mein Schwerpunktthema, lag nahe. Einerseits, weil dies seit 2015 der Inhalt meiner Forschungsprofessur ist, andererseits weil Gesellschaftswissenschaften in Brasilien traditionell eine größere Öffentlichkeits- und Transferorientierung haben. Die „Third Mission“ - also die gesellschaftliche Verantwortung von Hochschulen gegenüber der Gesellschaft - wurde in Brasilien schon immer vielfältig und aktiv gelebt. Trotzdem fehlen Experten, die zur Praxis den passenden wissenschaftstheoretischen Hintergrund mitbringen. So ergab sich die Idee für einen Workshop, der sowohl praktische als auch theoretische Dimensionen zu „Public Science“ umfasst und auf meine über zwanzigjährige Erfahrung mit Public Science aufbaut.
Warum ausgerechnet Brasilien?
Zu Brasilien habe ich eine intensive biografische Beziehung. In den 90er Jahren lebte ich eine Zeitlang in einer brasilianischen Familie in Bauru (São Paulo). Zudem habe ich neben Soziologie portugiesische Literaturwissenschaften studiert. Seitdem lassen mich Land, Leute, Kultur und vor allem die Sprache nicht mehr los.
Darüber hinaus forsche ich gegenwärtig zum österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig und dessen Gesellschaftsutopie. Seine Geschichte ist erschreckend aktuell. Zweig war Jude und floh bereits 1934 vor den Nazis, zunächst nach England, dann in die USA. Aber erst in Brasilien erhielt er schließlich ein unbefristetes Bleiberecht. In Petrópolis, einer Kleinstadt in den Bergen nahe Rio, mietete er sich ein Haus. Verzweifelt über die Geschehnisse in Europa beendete er aus „Weltschmerz“ schlussendlich sein Leben kurz nach seinem 60. Geburtstag. Ich schreibe gerade ein Buch über das Thema Exil. Da lag es nahe, Recherchen vor Ort zu machen. Zudem endet in Rio gerade eine einzigartige Ausstellung zu Stefan Zweig. Meine Studierenden waren übrigens äußerst interessiert an Zweigs Geschichte. Denn über diesen Umweg konnte ich ihnen viel über die Gegenwart Europas und die aktuellen politischen Veränderungen vermitteln.
Zurück zum Workshop – gibt es Unterschiede zwischen der HFU und der PUC bzw. den Studierenden beider Hochschulen?
Die PUC ist eine Universität mit einem breitem Studienangebot, das auch „Social Sciences and Humanities“ umfasst, die beiden Hochschulen sind eigentlich nicht zu vergleichen. Deshalb will ich lieber von den Studierenden berichten, denn die waren einzigartig! Rund ein Dutzend Studierender aus verschiedenen Fachbereichen (Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie, Public Policy, Design) nahmen an meinem Workshop teil. Die Diversität der Gruppe zeigte sich sofort in der Themenwahl für die studentische Präsentationen: Eine Trans-Person beschäftigte sich mit der Wahrnehmung dieser Personengruppe in Brasilien. Und das vor einem durchaus ernsthaften Hintergrund, denn ihr Partner war erst ein Jahr zuvor ermordet worden! Eine Studentin, die alleinerziehende Mutter ist, berichtete über ihr Engagement für Frauenrechte. Eine weitere Studentin musste morgens und abends jeweils zwei Stunden pendeln, um von ihrem Wohnort in mein Seminar zu kommen. Logischerweise beschäftigte sie sich mit der Verbesserung urbaner Mobilität. Es gab unglaublich vielfältige und authentische Themen, die von der öffentlichen Ko-Produktion von Kreativität bis zur Rolle von Lehrenden bei der Vermittlung soziologischer Inhalte reichten.
Mich haben der Einsatz und das Engagement der Studierenden mehr als erstaunt. Vom ersten Moment an arbeiteten alle unglaublich ernsthaft mit mir zusammen. Diese Mischung aus Neugier und Zielstrebigkeit habe ich noch nirgends erlebt. Zum Abschluss schenkte die Gruppe mir ein Buch, das von allen einzeln signiert worden war.
Hat das auch mit dem Praxisprojekt zu tun, dass Sie mit den Studierenden durchgeführt haben?
Ganz genau! Ich hatte den spontanen Einfall für ein besonderes Projekt. Und die Studierenden waren wirklich Feuer und Flamme...
Was war das für ein Projekt?
Das Projekt ist der Versuch, die eigene Stimme zu finden. Nichts ist wichtiger, wenn man öffentliche Wissenschaft betreiben möchte. Denn es geht immer darum, Menschen jenseits der Wissenschaft zu erreichen. Dafür braucht es anschlussfähige Kommunikationsformen. Und die eigene Stimme wird viel wahrscheinlicher gehört, als ein beliebiges Echo. Genau dafür habe ich mir das Projekt „Be a voice, not an echo!“ ausgedacht.
Und was genau haben Sie im Rahmen dieses Projekts mit den Studierenden gemacht?
Zusammen haben wir individuelle Vinyl-Singles produziert. Jede dieser Singles enthält eine Botschaft zu einem gesellschaftlich relevanten Zukunfts-Thema. Ich habe ja bereits geschildet, dass sich die Studierenden mit ernsthaften Fragen beschäftigten. Auf dieser Basis haben wir gemeinsam Botschaften entwickelt, die sich allesamt an ein öffentliches Publikum richten. Im nächsten Schritt wurden diese Botschaften als Audiodatei zweisprachig eingesprochen. Zusammen mit kooperierenden Künstlern des Wiener Projekts VINYLOGRAPH wird dann für jeden Studierenden im Nachgang zum Workshop eine Single produziert. Aus technischen Gründen hatte jede Botschaft eine maximale Länge von 4:30 min. Das ist didaktisch geschickt, denn die zeitliche Begrenzung zwingt zu einer klaren thematischen Fokussierung. Aber das ist noch nicht alles! Jede Single wird gleich zweifach produziert. Eine persönliche Single erhalten die Studierenden als Erinnerung. Die zweite Single sammle ich für mein „Archiv der Zukunftseuphorie“, das ich gerade aufbaue. Dabei werden Botschaften auf Singles gesammelt und kuratiert. Am Ende wird es dann auch eine öffentliche Ausstellung geben.
Gab es neben der Lehre noch ein besonderes Highlight?
Wie gesagt, die Zusammenarbeit mit den Studierenden war äußerst dynamisch und fruchtbar. Sehr schnell konnten wir Vertrauen zueinander aufbauen. Das führte auch dazu, dass uns eine Studentin, die in der nahegelegenen Favela Rocinha lebt, zu einer Führung und einem Besuch bei ihr zu Hause einlud. Direkt neben den luxuriösen Hotelanlagen am Strand von Ipanema und Leblon leben rund 75.000 Menschen in Häusern, die illegal und auf abenteuerliche Art und Weise an den Hang gebaut wurden. Rio ist die Stadt in Brasilien mit dem größten Anteil dieser „Slums“. Allerdings kennt kaum ein Brasilianer diese Favelas aus eigenem Augenschein, höchstens aus dem Fernsehen. Klar, dass ich mich als Soziologe über eine derartige Möglichkeit gefreut habe! Diese Exkursion war für uns alle eine enorme Bereicherung.
Welche Anregung werden Sie mit nach Hause nehmen?
Ich freue mich nun sehr auf meine neugierigen Studierenden in Furtwangen und hoffe sehr, dass ich auch sie mit diesem Konzept begeistern kann. Ich bin froh, dass das Experiment in Brasilien gelungen ist. Positiv war zunächst die Tatsache, dass der Workshop in einem überfakultativen Kontext angeboten wurde. Ein solches Konzept können wir sicher auch vermehrt an der HFU umsetzen. Den Workshop und das Projekt „Be a voice and not an echo!“ werde ich anpassen und an der HFU sowie an weiteren Orten anbieten. Es hat enormes Potenzial, denn die Studierenden lernen auf mehren Ebene zugleich, authentisch und gesellschaftlich anschlussfähig zu argumentieren. Mich hat diese Erfahrung eindeutig darin bestärkt, mehr Inhalte zu „Öffentlicher Wissenschaft“ anzubieten, denn Akzeptanz und die Resonanz waren insgesamt mehr als positiv. Ich bin sehr gespannt, was sich daraus entwickeln wird.