Entgegen aller Erwartungen

Physiotherapie: Interdisziplinäre Kooperation in der Grundlagenforschung zu Muskelverspannungen

Entgegen aller Erwartungen (I26150)

Wie genau misst man Muskelverspannungen? Das untersucht ein Forschungsprojekt an der Hochschule Furtwangen.

In dem vergleichsweise jungen Forschungsbereich der Physiotherapie muss man auf Überraschungen gefasst sein. Diese Erfahrung machte Prof. Dr. Angela Dieterich, die, wie sie selbst sagt, den „klassischen Weg“ beschritten hat: Ausbildung zur Physiotherapeutin, Behandlung von Patienten, eigene Praxis. Doch irgendwann war das nicht genug, Dieterich stieß auf den Fall einer jungen Patientin, deren Symptome Fragen aufwarfen, Fragen, auf die es keine Antwort gab. Bei der Recherche und Beschäftigung mit immer mehr Grundlagen und Annahmen, von denen man in der Physiotherapie ausgeht, entdeckte Prof. Dieterich: „Das ist meins“. Also schlug sie den akademischen Weg ein, spezialisierte sich auf Ultraschall-Verfahren, mit denen abgebildet werden konnte, wie Muskeln arbeiten, wie ein gesunder Muskel sich von einem durch Schmerzen nur eingeschränkt zu bewegendem unterscheidet. Dachte sie. „Stattdessen kam bei einer meiner Studien genau das Gegenteil von dem heraus, was wir vermutet hatten“, erinnert sie sich lachend. Patientinnen mit ernsthaften, jahrelangen Nackenschmerzen wurden mit beschwerdefreien Frauen im gleichen Alter verglichen. Ergebnis: kaum ein Unterschied bei der Steifheit der Muskeln konnte festgestellt werden. „Das war ein Schlag ins Gesicht“, sagt Dieterich. Für sie umso mehr Ansporn, sich elementaren Fragen zu stellen: Wie kann es bei einem solchen Ergebnis sein, dass Physiotherapeuten Verspannungen und schmerzende Bereiche „palpieren“, also mit den Handflächen erfühlen können? „In der klinischen Behandlung funktioniert das ja“, weiß Dieterich.

Inzwischen ist die Wissenschaftlerin den Geheimnissen der Muskeln auf buchstäblich tieferer Ebene auf der Spur. Durch das Verfahren der Elastografie, genauer: der Schwerwellen-Elastografie, kann von Muskeln heute jede Faser beobachtet werden. „Das funktioniert wie bei einem Stein, der ins Wasser fällt“, erklärt Dieterich. „Ein mechanischer Impuls wird gegeben und breitet sich wellenförmig im Gewebe aus. Unser Körper ist ja eigentlich auch nur Wasser, mit ein paar Trennschichten darin“. Um so eine Muskelsteifigkeit geht es im Projekt „Muskelverspannung messen?“, an dem Prof. Dieterich seit einem Jahr forscht. „Es ist erstaunlich, wie unterschätzt die Forschung in der Physiotherapie wird“, sagt sie. Oft werde sie gefragt, ob sie in ihrer Forschung neue Übungen für Patienten entwickle. Stattdessen leitet Dieterich ein innovatives Forschungsprojekt, das sich durch eine hochkarätige wie interdisziplinäre Besetzung auszeichnet. In Zusammenarbeit mit Dr. Leonardo Gizzi und Prof. Dr. Oliver Röhrle vom  Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme der der Universität Stuttgart, Experten für hochauflösende Elektromyografie-Verfahren, ihrer HFU-Kollegin Prof. Dr. Katrin Skerl als Spezialistin für programmierte Bildanalysen und wissenschaftlichen Mitarbeitenden sammelt Dieterich „Unmengen von Daten“. „Ich liebe es, mit so vielen technikaffinen Menschen zu arbeiten“, schwärmt sie. Auch Prof. Dr. Matthias Kohl von der HFU-Fakultät Medical and Life Sciences ist mit in das Projekt eingebunden – als Experte für Precision Medicine Diagnostics verantwortet er die Statistiken aus den gewonnenen Daten.

Obwohl Prof. Dr. Dieterich sagt, sie sei vorsichtig geworden mit Annahmen und Erwartungen, so zeichnet sich bei dem Projekt doch ein bislang noch weitgehend unbekanntes Phänomen ab: Muskeln arbeiten auch „quer“, also entgegengesetzt zur eigentlichen Faserrichtung. „Das kann man daran erkennen, dass Muskelbereiche schon anfangen sich zu bewegen, obwohl der elektrische Reiz dort noch gar nicht angekommen ist“, sagt Dieterich. Diese queren Kraftübertragungen könnten ein kleiner Teil der Lösung auf all die gefunden Rätsel sein. „Physiotherapeuten palpieren auch quer, und nicht entlang der Muskelfasern“, überlegt Dieterich. Ob sie diesen Effekt mittels der hochauflösenden Bildverfahren nachweisen können wird? Eines ist jedenfalls sicher: „Unser Körper hält jede Menge Überraschungen bereit!“

Um ihre Forschung auch der Öffentlichkeitzugänglich zu machen, hat Prof. Dieterich den Instagram-Kanal @muskelverspannung.messen ins Leben gerufen. Dort zeigt das Forschungsteam retrospektiv, wie sich das Projekt entwickelt. Bei dem bundesweiten und dieses Jahr von der Hochschule Furtwangen ausgerichteten Forschungssymposium Physiotherapie im September in Freiburg wird das spannende Thema ebenfalls vorgestellt: www.hs-furtwangen.de/fspt22