
Prof. Dr. Stefan Selke ist einer der bekanntesten öffentlichen Soziologen Deutschlands und lehrt an der Hochschule Furtwangen. Derzeit forscht er zum Thema Freiheit – gewohnt ungewöhnlich und auch mal aus einem Flugzeug heraus. Bild: privat
Wer mit Prof. Dr. Stefan Selke sprechen will, der muss damit rechnen, ihn auf einem Flugplatz in Schweden zu erreichen, wohin der passionierte Privatpilot flog, um Forschungsarbeiten zum Thema Freiheit zu betreiben. Oder er arbeitet als Berater für Europäische Raumfahrtagentur ESA vor Ort in Paris. Nimmt an einem Zukunftskongress in Wien teil. An einer Jury-Sitzung in einem Ministerium in Berlin. Oder steckt inmitten der Vorbereitung zu einer Talkshow-Teilnahme, einer Radiosendung oder einem Podcast. Selke, der an der Hochschule Furtwangen (HFU) an der Fakultät Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft lehrt, gehört zu den bekanntesten öffentlichen Gesellschaftswissenschaftlern Deutschlands. Seine Meinung ist gefragt, ob zum Thema Armutsbekämpfung in Deutschland, zu Auswirkungen der Corona-Pandemie, zu den Verheißungen Künstlicher Intelligenz oder zu Utopien im Zusammenhang mit der geplanten Besiedlung des Weltraums. Auffallend sei, so Selke, dass viele Gesprächspartner seine fachliche Perspektive immer wieder für „erfrischend“ halten. „Dabei ist es meist so, dass ich lediglich beobachte, und dann aufschreibe oder sage, was ich erkannt habe. Und genau das in einen zeitgenössischen Kontext stelle. Die detaillierte Analyse der Wirklichkeit ist meist Anklage genug“, fasst Stefan Selke seine Arbeitsweise zusammen.
Selke lehrt und forscht gewissermaßen in schwierigem Terrain. Schwierig, weil schwer abzugrenzen. Er schaut nicht in Mikroskope oder Fernrohre. Gesellschaft ist für ihn ein „Labor ohne Wände“, in dem er die Veränderung ethischer und kultureller Werte beobachtet und einordnet. Sein Fachgebiet ist die Transformationswissenschaft: „Die Untersuchung von Veränderungen auf individueller, kollektiver und planetarischer Ebene“, wie er es beschreibt, „und die Entwicklung von Zukunftsbildern, die dabei helfen, Menschen für Veränderungen zu motivieren“.
Vor diesem Hintergrund ist Stefan Selke ein Pionier „Öffentlicher Wissenschaft“: „Ich möchte erreichen, dass wir nicht über Menschen forschen, sondern mit ihnen – das gilt gerade auch im Kontext vordergründig technischer Fragen wie KI oder Energiewende. Denn Technik ist immer gesellschaftlich und politisch“. In dem von ihm gegründeten „Public Science Lab“ an der Hochschule Furtwangen entwickelt und testet Selke Methoden, mit denen die Öffentlichkeit an Forschung beteiligt werden kann, zum Beispiel Dialogformate, die Bürgerinnen und Bürger einbinden. Durch die Zusammenarbeit mit Stiftungen, Museen, Theatern, Kunstschaffenden und Medien gelingt es Selke, Resonanz und Reichweite von Wissenschaft zu vergrößern.
Die meisten Angebote öffentlicher Wissenschaft sind fach- und themenübergreifend nutzbar. Übergreifend, das ist ohnehin etwas, das für Selkes Denkansatz steht: „Die Probleme dieser Welt halten sich an keine Grenzen. Wir können sie nur transdisziplinär lösen. Wir müssen raus aus den Bunkern disziplinär abgegrenzter Wissenschaft“, sagt er, der sich selbst eher ungern als Soziologe, schon gar nicht als Koryphäe bezeichnen lassen möchte, sondern lieber als „disziplinierter Grenzgänger“.
Transformationsforscher Selke trägt auch an der HFU dazu bei, neue Forschungsmethoden und Denkmuster zu etablieren. Er war Senatsbeauftragter für Nachhaltigkeit und Gründungsdekan des Studiengangs Angewandte Gesundheitswissenschaften. In dem Studiengang lehrt er Fächer wie „Gesellschaftlicher Wandel“ oder „Wissenschaftstheorie“. Zugleich war er der Erste, dem an der Hochschule Furtwangen eine Forschungsprofessur eingerichtet wurde. Damit gehe eine Reduzierung der Lehrzeiten einher, um sich intensiver der Forschung in gesellschaftlich relevanten Themenfeldern widmen zu können, erklärt er. Die Forschungsprofessur wurde kürzlich bis 2027 verlängert. „Ich nehme den Auftrag, Zukunft zu gestalten sehr ernst“, sagt Selke, „dazu gehört auch, Theorie und Wissenschaft noch besser zu verzahnen“. Wie das geht? Um dem eigenen Denken Manieren beizubringen, brauche es zunächst ungewöhnliche Fragen, sagt Selke: „Es beginnt damit, die üblichen Selbstverständlichkeiten zu demaskieren“. So untersucht er zum Beispiel, wie sich Körper, Mensch und Gesellschaft verändern, wenn wir uns immer intensiver mit Smart Watches und anderen Geräten vermessen. Seine These der „rationalen Diskriminierung“ wurde schließlich auch vom Deutschen Ethikrat aufgenommen. Oder Selke überlegt, ob Technologien wie KI in postmodernen Gesellschaften eine Art von Trostfunktion einnehmen, so wie früher Religionen dazu dienten, die Angst vor der Zukunft zu bändigen. Nach Forschungsprojekten zur digitalen Transformation und Künstlicher Intelligenz widmet sich Selke derzeit den eng verwandten Bereichen Techno-Utopien, Zukunftsvisionen und der Frage nach dem gesellschaftlichen Wert von Weltraumexplorationen.
Fast immer schreibt er nebenbei mindestens ein Buch zu seinen Forschungsthemen - derzeit unter anderem zum Thema „Die Suche nach der verlorenen Freiheit“. Mit seinen Thesen trägt Selke als öffentlicher Intellektueller durch Beiträge in Radio und TV, als Blogger, Kolumnist und Herausgeber des Magazins „Zugluft“ zur öffentlichen Debatte bei. Die Liste seiner Fachpublikationen umfasst zahlreiche Artikel und auch ein alternatives Lehrbuch mit dem Titel „Einladung zur öffentlichen Soziologie“. In den vergangenen Jahren hat Selke mit Büchern wie „Schamland“ (Thema Armut) oder „Wunschland“ (Menschheits-Utopien) immer wieder öffentliche Debatten ausgelöst.
Vor wenigen Tagen erschien „Technik als Trost“ im transcript-Verlag, 2024 wird er ein Essaybuch zu „Zukunftseuphorie“ veröffentlichen. Auch sein Schreiben hat sich im Laufe der Zeit vom streng vorgegebenen Rahmen für wissenschaftliche Fachtexte zu einem in der Hochschulwelt ungewöhnlichem Genre entwickelt, das Selke als „erzähltes“ bzw. „erlebtes“ Sachbuch“ beschreibt.
Die Transformation seines Schreibstils spiegelt auch seine Biografie: Zunächst vom Studium der Luft- und Raumfahrt zur klassischen Soziologie. Schließlich weiter zu immer offeneren Ansätzen wie Public Sociology, öffentlicher und transformativer Wissenschaft. Mit Stefan Selke bleibt spannend an der Hochschule Furtwangen. Der erfrischende Grenzgänger ist immer gut für überraschende Forschungsperspektiven und überfachliche intellektuelle Entdeckungen.